S C H I C K S A L D ie ohrenbetäubende Stille im Haus war vielleicht am schlimmsten.“ Der 33-jäh- rige Artdirector Jeff Olsen war an Trubel im Haus gewöhnt. Bis zu jenem Tag in den Osterferien. Es war gegen ein Uhr mittags, als er mit seiner Frau Tamara und seinen Söhnen über die Autobahn nach Hause fuhr und einnickte. Mit 120 Stundenkilo- metern verlor er die Kontrolle über den Wagen. Aufgeschreckt durch hoch- fliegenden Schotter und einen Schrei seiner Frau riss er am Steuer. Das Auto flog aus der Kurve und überschlug sich acht Mal. Jeff war einen Augenblick bewusstlos. Als er zu sich kam, lag er auf dem Bo- den des Wagens unter dem Lenkrad. Wie betäubt hörte er seinen siebenjäh- rigen Sohn Spencer hysterisch weinen. Er versuchte, sich zu bewegen, um ihm zu helfen, war aber eingeklemmt, und durch das ganze Blut konnte er nichts sehen und kaum atmen. „Außer Spencers Weinen hörte ich nichts. In dem Moment war mir schon bewusst, dass meine Frau und unser einjähriger Sohn Griffin tot waren.“ QUÄLENDE FRAGEN Drei Monate später erwachte Jeff aus einem Koma. Sein linkes Bein war am- putiert worden, sein rechtes wurde von sechs Platten zusammengehalten. Bei dem Unfall waren auch Rücken und Brustkorb gebrochen, die Lunge zusammengeklappt und die Magen- gegend schwer geschädigt worden. Es war ein Wunder, dass er noch lebte. Seine Frau und sein Sohn waren tat- sächlich tot. Spencer hatte den Unfall mit ein paar Schrammen überlebt. Auf der Intensivstation quälte Jeff sich mit Fragen: Wie hatte das passie- ren können? War ich zu müde, zu überarbeitet? Aber es waren doch Fe- rien? „In Gedanken ging ich immer wieder jede Kleinigkeit durch, an die ich mich erinnern konnte. Waren an- dere Autos beteiligt gewesen? War ich geblendet worden? Aber es kam keine passende Erklärung, außer dass ich einfach eingedöst war.“ Jeff kämpfte mit Schuldgefühlen. „Meine Frau und mein Kind lebten nicht mehr – durch meine Schuld.“ STILLE TAGE Jeffs Familie hatte einen monatelangen Vorsprung in der Trauerarbeit. „Sie hatten meine Frau und meinen Sohn begraben, als ich im Koma lag. Das hatte den Vorteil, dass meine Brüder mir Halt bieten konnten, sie waren mittlerweile schon eine Phase weiter, doch das Schwierige war, dass Spencer keinen weinenden Vater mehr sehen wollte.“ Spencer war von Familien- mitgliedern aufgefangen worden. Er sei sehr traurig gewesen, erzählten sie, aber als Jeff endlich wieder zu sich kam, wollte er nicht mehr zurück- schauen. Jeff fühlte sich Spencer ge- genüber einfach nur furchtbar: „Was bin ich für ein Vater, der seinem Kind die Mutter und den Bruder genommen hat?“ Er scheute sich auch vor der Konfrontation mit Tamaras Eltern. Wie entschuldigt man sich bei den Eltern der Frau, an deren Tod man Schuld trägt? Alle hatten ihm vertraut. Er hätte seine Familie sicher nach Hause bringen sollen. Tamaras Vater besuchte Jeff im Kran- kenhaus, und wie alle anderen erzähl- te er ihm, dass es an diesem Tage starke Seitenwinde in den Bergen ge- geben hatte, die das Auto möglicher- weise umgeworfen hatten. Anfangs ließ Jeff das so stehen. Aber die Vermutung, er sei hinter dem Steuer eingeschlafen, blieb. „Schließ- lich beichtete ich es. Tamaras Vater reagierte recht gelassen. Es war mitt- lerweile schon so viel Zeit verstrichen, dass die Ursache nicht mehr wirklich relevant war.“ Körperlich erholte sich Jeff erstaunlich gut. Er bekam eine Prothese, sein anderes Bein war gut geheilt. Nach sechs Monaten wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und kehrte in das Haus der Familie zurück. „Spencer wollte wieder in seine ver- traute Schule, seine Freunde in der Nähe haben und in sein Zimmer zu- rück. Für mich war das eine einzige große Konfrontation: Auf dem Spiegel im Badezimmer waren noch die Fin- gerabdrücke meines kleinen Griffin, über der Stuhllehne hing ein Pullover meiner Frau – vor Monaten hatte sie ihn dort zum Trocknen aufgehängt. Ich konnte ihn nicht wegräumen, ich wagte es nicht.“ Manchmal waren die Tage sehr still. „Die Lebendigkeit im Haus, die ich so liebte, war wie von Hammerschlägen zertrümmert.“ FAMILIENVIDEOS „Hin und wieder fragt man mich, wie ich so ruhig über das alles reden kann. Aber in den ersten Jahren war das gar nicht möglich. Ich konnte kaum die Namen meiner Frau und meines Soh- Fingerabdrücke auf dem Spiegel, ihr Pullover über der Stuhllehne ... Unser Haus war eine einzige große Konfrontation PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER MAI/JUNI 2021 71