P E R S Ö N L I C H K E I T WIE ICH (ETWAS) EXTROVERTIERTER WURDE Die Geschichte eines persönlichen Experiments Wer von Haus aus introvertiert ist, wird nie zu einem extrovertierten Menschen werden, oder doch? Die introvertierte Journalistin Jessica Pan wollte es wissen – und beschloss, ein Jahr lang Dinge zu tun, vor denen sie immer zurückgeschreckt ist Festivals mag ich nicht, ich bin nicht gut darin, mich stunden- lang unter Leute zu mischen, und ich brauche auch nicht Hunderte von Freunden. Außerdem mag ich absolut keine Netzwerktref- fen, und nach einem Zusammensein mit anderen brauche ich Zeit für mich. Das alles liegt daran, dass ich intro- vertiert bin. Studien zeigen, dass fast jeder Zweite introvertiert ist, wodurch eine reelle Chance besteht, dass Sie dazugehören. Introvertierte laden ihre Energie wie- der auf, indem sie allein sind, während Extrovertierte ihre Energie aus dem Kontakt mit anderen ziehen. In ihrem Buch Still. Die Kraft der Introvertier- ten behauptet die US-amerikanische Autorin Susan Cain, introvertierte Menschen seien häufiger schüchtern, fühlten sich bei einem Eins-zu-eins- Gespräch wohler, mieden Vorträge in der Öffentlichkeit und pflegten relativ wenige, aber intensive Freundschaften. Ich habe in lebendigen, pulsierenden Städten wie Peking, Melbourne und London gewohnt, aber überall war ich gleich schüchtern und introvertiert. Ich sehnte mich hin und wieder da- nach, weniger scheu zu sein und mich in Gesellschaft wohler zu fühlen, aber ich war nun einmal so, wie ich war. Bis letztes Jahr, als meine Welt aufgrund zweier Entwicklungen zerbrach. Ich hatte angefangen, als Freiberuflerin von zu Hause aus zu arbeiten, weil mir mein Job nicht mehr gefiel. Außerdem zogen alle meine besten Londoner Freunde raus aus der Stadt oder sie hatten zu viel zu tun, um sich zu ver- abreden. Nach einigen Monaten Ar- beit vom häuslichen Sofa aus, ohne auch nur einen Menschen, mit dem ich etwas hätte trinken können, wurde mir klar, dass ich drauf und dran war, zu vereinsamen. Auch meine Karriere war in eine Sackgasse geraten, und mir fehlten die Geschäftskontakte, die ich brauchte. Ich hatte Angst, neue Dinge auszuprobieren oder neue Men- schen zu treffen. So ganz allein zu Hause fühlte ich mich schlecht, und mir wurde bewusst, dass ich an einem kritischen Punkt ange- langt war: Ich hatte meine Introver- tiertheit als Ausrede benutzt, um mich abzuschotten, wodurch ich jetzt nicht mehr wusste, wo meine natürliche In- trovertiertheit endete und Depression und Einsamkeit begannen. Es gibt genügend introvertierte Men- schen, die froh und zufrieden sind, wie sie sind, aber ich spürte, dass ich glücklicher sein könnte mit einem Leben, in dem ich mich traute, die Tü- ren etwas weiter zu öffnen. Dafür musste ich allerdings einige Schritte in die Wege leiten. Ich beschloss, ein gan- zes Jahr lang extrovertiert zu leben. Ich würde viele Dinge tun, die ich als PSYCHOLOGIE BRINGT DICH WEITER JANUAR/FEBRUAR 2021 91